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...ich lass mich doch von Ihnen nicht anlügen!

Ryka Aoki - Das Licht ungewöhnlicher Sterne


einz1975

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Die Geschichte, die hier erzählt wird, trägt auf den ersten Blick ein klassisches Motiv, das jedoch immer wieder neu und auf faszinierende Weise interpretiert werden kann. Im Zentrum steht ein Dämon, der Seelen sammelt und dabei seine Opfer mit großer Bedacht auswählt. Shizuka Satomi war einst eine gefeierte Geigenlehrerin, eine wahre Koryphäe ihres Fachs, deren Schüler allesamt zu berühmten Virtuosen wurden. Doch eines Tages zog sie sich aus der Öffentlichkeit zurück. Niemand ahnt jedoch, dass sie vor vielen Jahren einen Pakt mit einem Dämon geschlossen hat. Sie versprach, ihm sieben Musikerseelen zu übergeben. Sechs davon hat sie bereits geliefert, doch die siebte steht noch aus. Die Zeit drängt, und die Hölle fordert mit wachsender Dringlichkeit die Erfüllung des Paktes. Eines Tages begegnet Shizuka Katrina, und sie erkennt sofort, dass sie diejenige ist, die die letzte Seele liefern könnte. Doch an diesem schicksalhaften Tag trifft Shizuka auch auf Lan Tran, eine Frau von einer beinahe überirdischen, fast malerischen Schönheit, die alles verändert.

Obwohl die Geschichte zunächst wie ein düsteres, mystisches Drama wirkt, nimmt sie durch die geheimnisvolle Lan Tran eine überraschende Wendung hin zur Science-Fiction. Lan und ihre Familie sind vor langer Zeit aus einem galaktischen Imperium geflohen und haben Zuflucht auf der Erde gesucht. Dort haben sie sich ein unauffälliges Leben aufgebaut, indem sie einen kleinen, altmodischen Donut-Laden betreiben. Ihre wahre, außerirdische Gestalt verbergen sie geschickt, um unter den Menschen nicht aufzufallen. Doch die Idylle trügt: Heimlich arbeiten sie daran, ein Sternentor zu reaktivieren, um im Falle einer Gefahr erneut fliehen zu können. In diesem Kontext begegnen wir einigen nicht-humanoiden Figuren, die als Hologramme in dem Donut-Laden arbeiten. Obwohl sie technisch keine Menschen sind, besitzen sie eine erstaunliche emotionale Tiefe, die sie in mancher Hinsicht menschlicher wirken lässt als einige echte Menschen.

Zu Beginn der Geschichte wird ein intensiver Blick in das Leben von Katrina geworfen, einer jungen transsexuellen Frau, die von ihrer Familie verstoßen wurde. Sie ist auf der Suche nach einem Platz in der Welt und kämpft mit tiefen Selbstzweifeln. Als sie auf Shizuka trifft, findet sie nicht nur eine Lehrerin, sondern auch eine Möglichkeit, sich selbst neu zu entdecken. Die Darstellung ihrer Lebensumstände ist jedoch nicht unproblematisch. Die Autorin beschreibt Katrina als naiv und einfältig, jemand, der seinen Lebensunterhalt mit freizügigen Videos und zwielichtigen Freiern verdient. Diese klischeehafte und stereotype Darstellung wirkt für mich völlig überzogen, da sie der Realität vieler transsexueller Menschen kaum gerecht wird. Andererseits sind die Passagen, die sich mit Katrinas musikalischem Talent und ihrer Liebe zur Geige befassen, gut beschrieben. Die Geigenstunden, die sie mit Shizuka verbringt, zeigen, wie sie langsam aufblüht. Shizuka behandelt Katrina völlig vorurteilsfrei; für sie zählt allein die Musik. Diese Momente verleihen der Geschichte eine besondere emotionale Tiefe.

Neben Katrina und Shizuka treffen noch weitere interessante Figuren in der Geschichte ein, darunter eine Geigenbauerin, die eine wichtige Nebenrolle spielt, und natürlich der Dämon, der wie ein Schatten über allem schwebt. Obwohl die Handlung vordergründig von Musik und dem Geigenspiel getragen wird, berührt sie viele andere tiefgreifende Themen: den Hass auf Andersartigkeit, die Liebe zwischen zwei Frauen, die Selbstfindung virtueller Kinder und die unerwartete Zuneigung zu einem Teenager, den man nicht mehr loslassen möchte. Inmitten dieses emotionalen Chaos und der oft schmerzhaften Prozesse des Erwachsenwerdens wirkt die Science-Fiction-Handlung rund um das Raumschiff eher wie ein kreativer Einfall, der die Geschichte ergänzt, aber nicht wirklich trägt. Das Raumschiff und die damit verbundenen technischen Elemente dienen eher als Rahmen für die Charakterentwicklung und die zwischenmenschlichen Beziehungen. Ryka Aoki hat mit „Das Licht ungewöhnlicher Sterne“ ein Werk geschaffen, das sich bewusst von traditionellen Erzählmustern löst. Es gibt keine zentrale Hauptfigur, sondern ein Ensemble von Charakteren, die miteinander verwoben sind. Jeder einzelne Handlungsstrang fügt sich am Ende zu einem Ganzen zusammen, das mehr ist als die Summe seiner Teile.

Fazit:
„Das Licht ungewöhnlicher Sterne“ ist ein literarisches Experiment, das Genregrenzen überschreitet und bewusst Konventionen hinter sich lässt. Es ist eine Mischung aus Goethes „Faust“, einer Sci-Fi-Fluchtgeschichte, einer transsexuellen Geigenspielerin und virtuellen, rebellierenden Jugendlichen – ein außergewöhnlicher Mix, der nach mehr klingt als nach klassischer Science-Fiction. Für Leser, die bereit sind, sich auf diese unkonventionelle Erzählweise einzulassen, bietet das Buch ein interessantes Erlebnis, mit originellen Ideen. Dennoch mangelt es der Geschichte an klassischen Spannungsbögen und lehrreichen Momenten, was sie zu einer Herausforderung für konventionelle Leser macht. Wer sich jedoch auf die Absurdität und die Andersartigkeit der Erzählung einlassen kann, wird am Ende mit einem offenen, aber hoffnungsvollen Happy End belohnt. Ein Buch für jene, die das Experimentelle lieben.

Matthias Göbel

Autorin: Ryka Aoki
Überstzung: Michael Pfingstl
Klappenbroschur: 496 Seiten
Verlag: Heyne Verlag
Veröffentlichung: 11.01.2024
ISBN: 9783453323094

 

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Bearbeitet von einz1975
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