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...die höchste Erleuchtung der Sünde

Erik Harlandt - Lebendfracht


einz1975

Empfohlene Beiträge

Das Reisen durch den Weltraum birgt zahlreiche Gefahren und Herausforderungen. Eine der vielversprechendsten Methoden, um große Distanzen zu überbrücken, ist der Kryoschlaf. Dabei werden die Körperfunktionen auf ein Minimum reduziert, sodass die Reisenden in einer Art künstlichem Winterschlaf verharren. Man "träumt" sich also buchstäblich zum Ziel und umgeht dabei die Strapazen der interstellaren Reise. Doch was geschieht, wenn ein solcher Schlaf vorzeitig endet und der Reisende sich in einer Umgebung wiederfindet, die für wache Menschen nicht vorgesehen ist? Nisse, die Hauptfigur des Romans, begibt sich freiwillig auf eine sogenannte Lebendfracht, einen interstellaren Transport von Menschen im Kryoschlaf. Seine Mission ist sehr persönlich: Er sucht seine langjährige Freundin Thyra, die nach einem gescheiterten Söldnereinsatz, ohne je geweckt zu werden, direkt weiterverkauft wurde. Das Ziel des automatisierten Zubringerschiffs bleibt zunächst ungewiss, denn in dieser dystopischen Zukunft gibt es zahlreiche Möglichkeiten, Menschen als billige Arbeitskräfte auszubeuten. Für viele Passagiere an Bord bedeutet diese Reise der unfreiwillige Übergang in ein ungewisses Schicksal – für Nisse jedoch ist sie ein verzweifelter Versuch, eine geliebte Person zu retten.

Nisse erwacht als Einziger aus dem Kryoschlaf – und damit nimmt die Geschichte ihren Lauf. Was als scheinbar kontrollierter Plan beginnt, entpuppt sich als Albtraum: Das Schiff ist nichts weiter als eine gigantische, unbarmherzige Transportmaschinerie – ein eiserner Kühlschrank, randvoll mit 50.000 schlafenden Menschen, aber ohne funktionierende Steuerung, ohne Nahrung und ohne weiteres Personal. Die klaustrophobische Enge der Schlafkapseln, die sterile Kälte der Umgebung und die erdrückende Stille verstärken die beklemmende Atmosphäre. Harlandt gelingt es meisterhaft, den Leser von der ersten Sekunde an in das Geschehen hineinzuziehen. Man steht Nisse quasi direkt zur Seite, spürt seinen Atem, seinen Herzschlag, seine Panik. Besonders eindrücklich ist die detaillierte Schilderung seines Erwachens: die absolute Dunkelheit, der sterile Geruch der Kapseln, das unangenehme Ziehen in den Gliedern, das Pochen des Blutes in den Ohren und der schneidende Schmerz eines Körpers, der nach langer Starre wieder aktiviert wird.

Hinzu kommt die erdrückende Erkenntnis, dass er allein ist. Die Angst vor der ungewissen Zukunft wächst mit jeder Sekunde, denn Nisse weiß, dass sein ursprünglicher Plan nicht ausgereift ist. Verzweifelt sucht er nach Thyra, doch bei dem Versuch, sich durch das Labyrinth aus Schlafkapseln zu bewegen, passiert ihm ein folgenschwerer Fehler: Er weckt versehentlich einen anderen Passagier. Damit schlägt die Handlung eine neue Richtung ein. Was zunächst wie eine klassische Einzelkämpfergeschichte beginnt, entwickelt sich zu einer dynamischen Gruppenodyssee. Plötzlich bevölkern weitere Figuren die Geschichte, und die Dialoge nehmen zu. Jeder der Erwachten bringt seine eigene Vergangenheit, seine Ängste und seine Hoffnungen mit in das unfreiwillige Abenteuer. Hier zeigt sich eine große Stärke des Romans: Anstatt die Handlung ausschließlich durch Erzählungen voranzutreiben, setzt Harlandt verstärkt auf lebendige Dialoge. Dies verleiht den Charakteren Tiefe und macht die Zukunftswelt greifbarer. Man erfährt nach und nach mehr über die gesellschaftlichen Strukturen dieser dystopischen Zukunft, über Bildungssysteme, über den Aufbau von Raumschiffen und über eine gnadenlose Wirtschaft, die Menschen eher als Ressource denn als Individuen betrachtet. Die Welt wirkt durch diese Detailtiefe faszinierend und erschreckend zugleich.

Doch mit der wachsenden Interaktion zwischen den Figuren mischen sich auch Unsicherheit und Misstrauen in die Dynamik. Keiner kennt den anderen, und doch müssen sie gemeinsam eine Reise überstehen, die nie für wache Menschen vorgesehen war. Die Erkundung des Schiffes fördert zahlreiche beunruhigende Entdeckungen zutage, die den Spannungsbogen kontinuierlich aufrechterhalten. Die technischen Aspekte des Raumschiffs, die verborgenen Mechanismen, die ursprüngliche Funktion des Transports – all dies wird nach und nach entschlüsselt. Und gerade, als sich langsam ein Bild der eigentlichen Situation formt, hätte der Autor bereits einen packenden Abschluss setzen können. Doch stattdessen folgt eine letzte Wendung: Die Gruppe wird auseinandergerissen, die Dialoge nehmen rapide ab, und das Finale erhält eine völlig andere Tonalität. Während einige der vorherigen Dialoge vielleicht belanglos erschienen, vermisst man sie in der Endphase der Geschichte plötzlich. Das Tempo zieht spürbar an, der Fokus liegt nun stärker auf den Ereignissen als auf der Charakterentwicklung. Der eigentliche Plot wird straffer erzählt, doch das Ende bietet dennoch eine beeindruckende Idee und lädt zur Interpretation ein. Was ist der wahre Zweck dieser Mission? Ist Nisses Reise tatsächlich zu Ende, oder beginnt hier etwas ganz Neues? Die Antworten bleiben offen, doch gerade das macht den Roman umso nachwirkender.

Fazit:
Allein im All, umgeben von Tausenden schlafenden Menschen – eine beklemmende Vorstellung, die den Leser sofort packt. Dazu die unerbittliche Realität: kein Essen, kein Wasser, niemand zum Reden. Nisse hatte seinen Plan nicht durchdacht, doch aus dieser verzweifelten Situation formt sich etwas, das es so nicht hätte geben dürfen: ein Zusammenschluss Erwachter, die sich dem Unvermeidlichen entgegenstellen. Harlandt schafft es insbesondere in der ersten Hälfte, eine starke Bindung zwischen Leser und Hauptfigur herzustellen. Die Nebencharaktere bringen weitere spannende Facetten ins Spiel, auch wenn manche Dialoge inhaltlich nicht immer zielführend sind. Doch genau diese lebendige Erzählweise macht den späteren Bruch umso deutlicher spürbar. Die Kulisse und Grundidee sind außergewöhnlich und geben dem Roman eine besondere Note. Die Spannungskurve ist durchweg gut, auch wenn einige Passagen gestrafft werden könnten. Insgesamt ein gelungener Sci-Fi-Roman, der nicht nur mit einer packenden Geschichte überzeugt, sondern auch interessante Fragen über Menschlichkeit, Moral und das Wesen von Gesellschaften aufwirft. Er verbindet philosophische Reflexionen mit rasanter Spannung und erschafft eine beklemmende Zukunftsvision.

Matthias Göbel

Autor: Erik Harlandt
Taschenbuch: 396 Seiten
Verlag: Selfpublisher
Veröffentlichung: 27.11.2024
ISBN: 9798300054748

Erik-Harlandt.de
 

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