Während also die direkte Hinwendung an einen Gott im Herrn der Ringe selten zu finden ist, gibt es zahlreiche andere Möglichkeiten, Religion in diesem Werk Tolkiens zu verorten: Sternberg verfolgt dabei den Begriff „Numinos“ nach Rudolf Otto, der das Göttliche beschreiben soll, und zwar das Göttliche, das durch Erkenntnis selbst erfahren wird. Die persönliche Erfahrung und das Empfinden spielen also die entscheidende Rolle bei der Erfahrung des Göttlichen. Und diese Erfahrung bewegt sich vor allem zwischen zwei Polen, nämlich dem Tremendum, also der Furcht (oder gar dem Entsetzen) und dem Fascinans, also der Anziehung, beide vor dem Hintergrund des Mysteriums. Ein gutes Beispiel ist dabei die Perzeption der Elben durch Sam:
Obwohl er sich vor ihnen ein Stück weit fürchtet, möchte er sie dennoch unbedingt kennen lernen – sie üben eine ungeheure Faszination auf ihn aus. Und diese liegt nicht in der Macht der Elben begründet, da auch Sam bekannt ist, dass die einstige Macht der Elben schon lange im Niedergang ist. Hinzu kommt noch eine weitere Komponente des Numinos´: Diese Erfahrung des Göttlichen ist eine Motivation für weiteres Handeln. Auch die Begegnung Sams mit den Elben ist für ihn im späteren Verlauf der Geschichte von großer Bedeutung, auch wenn er sich selbst nicht erklären kann, warum.
Auch Frodo ist von den Elben fasziniert – da er jedoch ein recht neugieriger Hobbit ist, hat er die Elben schon viel früher kennen gelernt, als Sam. Dennoch kann auch Frodo sich dem Fascinans nicht entziehen, besonders als er Tom Bombadils Frau, Goldbeere, kennen lernt.
Auch Galadriel wird besonders von Boromir gefürchtet, was er zum Ausdruck bringt als sie nach Lorien gehen – zugleich wird Galadriel auch als überaus mysteriös geschildert, indem Tolkien oft auf typische Darstellungsformen eines Mystikers zurückgreift. Tolkien beschreibt beispielsweise, was Galadriel NICHT ist, hält die Beschreibungen eher offen und lässt große Interpretationsspielräume zu.
Während also einfache Wesen wie Menschen und Hobbits ihre religiösen Erfahrungen oft über ihre persönliche Wahrnehmung von Elben machen, steht diesen eine solche Möglichkeit nicht offen – dies wäre auch allzu narzisstisch. So wenden sich die Elben auch eher im Gebet oder Gesang an Götter.
Neben dem Numinos spielen auch die Zeit und der Ort entscheidende Rollen – insbesondere die Zeit ist hierbei von Bedeutung. Sie verläuft nämlich unterschiedlich. Während sie in der ´normalen´ Welt einem beständigen Wandel unterliegt, ist sie bei den Elben anders geartet. In Lorien hat die Zeit etwas Bewahrendes und Wiederaufbauendes an sich.
Dem Publikum stellten sich nach einer Reihe von Ausführungen auch weiterführende Fragen: So stellte sich die Frage nach dem Niedergang von Religion, denn schließlich verschwinden die Elben, über die sich das Numinos oft wieder findet allmählich von Mittelerde.
Insgesamt lässt sich die starke Verlagerung direkter religiöser Hinwendungen an die Peripherie des Werks wohl damit erklären, dass für Tolkien die Geschichte im Vordergrund stand, die er nicht durch Religion überlagern oder gefährden wollte. Nichtsdestotrotz spielt religiöse Hinwendung und Erfahrung im Herrn der Ringe eine große Rolle, auch wenn nicht alle Fragen diesbezüglich spekulationsfrei beantwortet werden können.
Text: Markus Sampl
Quelle: treknews.de
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