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Marcel Labbé-Laurent - "Das Portunische Manifest"
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Prolog
Eine finstere Nacht lag über den zerstörten Grundmauern eines alten Industrieviertels. Schutt und Asche türmten sich dort, wo einst die Straßen gewesen waren. Die Gebäude waren dem Verfall überlassen worden, der sich bereits genügend Zeit genommen hatte, diese Gegend in einen Ort der Trostlosigkeit zu verwandeln. Im Schatten der verbliebenen Mauerwerke und weniger zerstörten Gebäuden schlichen einige Gestalten durch die Dunkelheit. Es war eine kleine Menschengruppe, die sich über die Schuttberge zwängte, aber in Verfall und Dunkelheit verschwommen sie mehr zu einem Teil der Szenerie, beinah zu Ratten, die durch einen schmutzigen Keller huschend einem düsteren Instinkt folgten. Nur wirkten sie eher bedauernswert als bedrohlich, wie sie völlig schweigsam in eine zerstörte Lagerhalle drängten.
»Sind Sie hier?«, äußerte einer der Hereingekommen in die Ecken des Gebäudes.
»Ja«, ertönte die Antwort eines weiteren Menschen, der sich aus einem Eck schälte und an die Gruppe herantrat.
»Haben Sie es?«, fragte der Mann an der Spitze der Gruppe.
»Natürlich. Wurden Sie sicher nicht beobachtet?«, erwiderte die alleinige Gestalt.
»Sie sagten doch, hier gebe es keine Überwachungskameras.«
»Gibt es auch nicht. Aber trauen Sie nichts und niemanden in diesen gottverdammten Zeiten«, gab der offensichtliche Verkäufer in diesem heimlichen Handel in einem bitteren Ton zu verstehen. Er griff in seine Tasche und zog ein mitteldickes Buch hervor, das weniger alt, als vielmehr zu oft gelesen wirkte. Der Einband war abgegriffen, wirkte fast schon unfachmännisch an das Papier geklebt, die Kanten der Seiten bogen sich. Er überreichte es den Käufern, deren vorderster Mann es mit einer innigen Erheiterung, fast schon Euphorie, in die Hand nahm und durchblätterte.
»Was verlangen Sie dafür?«
»Nur, dass Sie es lesen, sich uns anschließen und weitergeben. Sie können etwas zu unserer Sache beitragen. Helfen Sie uns, unsere Geschichte zu bewahren. Und sie zurückzufordern«, erklärte der Überreicher der Schrift.
»Hat er, unser Held und Anführer, dieses Buch tatsächlich selber geschrieben?«
»Ich weiß es nicht. Erwarten Sie, dass Gott die Bibel geschrieben hat? Mir ist es egal. Wir folgen seinem Ideal, nicht seinen Worten.«
Ein kalter Morgen
Das Erste, woran ich mich erinnern konnte, war dieses beängstigende Gefühl, eine eisige Kälte die an meinem Körper entlang kroch. Nein, nicht nur an ihm entlang, diese Kälte durchflutete mich von Innen, durch jede Ader meines Körpers. Wenn meine Gliedmaßen nicht noch in Unbeweglichkeit erstarrt gewesen wären, sie wären dem Drang zu Zittern erlegen, der der Kälte nachfolgte. Erst langsam konnte ich meinen Verstand von diesen, mich überflutenden, Reizen abwenden und darauf verwenden, meine Lage zu erkennen.
Wo war ich?
Dass ich mir keine spontane Antwort auf diese Frage geben konnte, ließ meine aufkeimende Panik anschwellen. Ich öffnete meine Augen, doch mehr als verschwommene Farbschemen konnte ich nicht erkennen. Erst jetzt bemerkte ich die Geräusche, die dumpf und heiser um mich herum hallten, weit entfernt und metallisch. Ich war immer noch nicht dazu in der Lage, mich zu rühren, so sehr ich dies geistig wünschte, der Impuls versiegte noch auf dem Weg in die Muskeln. Steif lag ich da, obwohl die Kälte nun meinen Körper verlassen zu haben schien und ich spürte, wie sich langsam wohlige Wärme ausbreitete. Mein Kopf klarte sich immer weiter auf, was ich als Beruhigung empfand, auch wenn es mich zu der logischen Erkenntnis trieb, dass ich gefangen gewesen war. Wo und wie auch immer. Unbewusst wollte ich aus ganzer Kraft einen Schrei ausstoßen, doch konnte ich spüren, wie dieser noch in meiner Kehle lautlos verhallte. Hätte es etwas geändert?
Endlich erschien vor mir ein menschliches Angesicht, überraschend klar, als wäre es nicht vor meinen Augen, sondern noch viel näher. Ich konnte dieses Gesicht sofort erkennen. Es war meines. Das von Koren Suro; ich wusste also immerhin noch wer ich war. Ich fragte mich wie ich in mein eigenes Antlitz blicken konnte, denn es handelte sich um keine Spiegelung, da mein Ebenbild anfing mit mir zu sprechen.
»Hallo…du…ähm… ich«, begrüßte ich mich selber. Es musste eine Art Aufzeichnung von mir selber gewesen sein und scheinbar war es mir bei klarem Verstand genauso seltsam vorgekommen, mit mir selber zu sprechen.
»Wenn du das jetzt hörst, hast du es hinter dir. Diese Aufnahme dient dazu, mich zu beruhigen. Die Ärzte meinen, nach dem Aufwachen könnte man eine panische Irritation verspüren. Also sollte man als erstes eine bekannte Stimme hören. Ich hoffe doch zumindest, dass sie dir bekannt vorkommt. Lass mich dir sagen, dass es keinen Grund zur Panik gibt. Ich will dir vorsichtshalber auf die Sprünge helfen. Wir werden alle kryonisch eingefroren, bzw. für dich wurden. Eigentlich warst du klinisch tot, aber so nennt das hier keiner. Leider musste das alles sehr überstürzt passieren, es konnten nicht mehr alle Systeme gewartet werden. Die Doktoren meinen, dass es passieren kann, dass einige Teile des Gehirns nach dem Vorgang noch etwas länger auf Eis liegen könnten. Wenn du also erst etwas auf dem Schlauch stehst – das wird sich mit der Zeit legen. Sofern mein Gehirn sich bei der ganzen Scheiße keinen Gefrierbrand geholt hat. Vertrau einfach den Ärzten, dann kommt alles wieder in Ordnung. Sie werden sich um dich kümmern.«
Plötzlich verspürte ich einen brennenden und zugleich kalten Schmerz an meinem Hals, der nur einen Sekundenbruchteil andauerte. Als daraufhin das Gefühl in meine Gliedmaßen zurückkehrte, nahm ich an, dass dies eine Injektion war. Wieder hörte ich ein undeutliches Geräusch, als ein Mechanismus ausgelöst wurde, der mir den Boden unter den Füßen wegriss. Unerwartet stürzte ich ohne Kontrolle in eine unbekannte Welt und landete auf einem weichen Material, das meinen Fall sanft auffing.
Ich muss an diesem Ort einige Minuten einfach nur wie eine Schildkröte auf dem Rücken gelegen haben, genauso hilflos. Nur konnte ich nicht einmal strampeln. Meine Panik war durch meine eigenen beruhigenden Worte teilweise gelindert worden, im Augenblick empfand ich nur eine beängstigende Schutzlosigkeit.
Ich spürte Arme, Beine, Finger, Zehen; ich war mir sicher, dass mir im engeren Sinne körperlich nichts fehlte, aber es fehlte mir dafür die Kraft für die kleinste Bewegung. Meine innere Stimme schloss sich dem Ich der Aufnahme an und versuchte Zuversicht in mir zu wecken. »Das muss wohl so sein. Immerhin hab ich meine Muskeln eine ganze Weile nicht benutzt.« Ich fragte mich, ob ich diesen Sachverhalt wusste, weil man ihn mir einst erklärt hatte, oder ob es mir soeben klar geworden war. Eine Frage, die ich mir nicht beantworten konnte.
Ich wartete darauf, dass mich irgendein Arzt zum Aufstehen zwingen würde, doch ich wartete lange. Und vergebens. Ich mühte mich mit der geringen vorhandenen Kraft auf meine wackeligen Beine und betrachtete meine Umgebung. Mir stachen befremdliche Kontraste ins Auge. Der Raum bestand vollständig aus einem ausladend dunklen Metall, das bereits angerostet wirkte, und war nur schwach beleuchtet. Die Einrichtung war die eines medizinischen Behandlungsraumes: Auf Rollwagen waren Spritzen und Substanzfläschchen mit Flüssigkeiten zu finden, Tablettenschachteln lagen auf Regalen, eine Untersuchungsliege stand im Raum. Dreck war über den ganzen Boden verteilt. Es roch absolut widerlich abgestanden. Die Luft musste so alt gewesen sein wie das rostige Metall. Die altersschwache, rissige Decke lies immer wieder weiteren Staub von oben herab rieseln. Die Trostlosigkeit dieses Ortes ließ mich zweifeln, ob hier noch ein Arzt aufkreuzen würde. Meine wiederkehrende Rationalität und die verbliebene Angst hielten eine seltsame Balance. Die ungeplante Einsamkeit hätte mich eigentlich ängstigen sollen, doch sie bedeutete auch keine Bedrohung für mein Leben. Das erschien mir fürs Erste das Wesentliche zu sein.
Aus Zweckmäßigkeit wandte ich mich im Raum um, ihn weiter untersuchend. Die mechanische Transportvorrichtung, die mich in meiner Kapsel hier abgeladen hatte, war unschwer zu erkennen - selbst als die Kapsel schon wieder von derselben Mechanik irgendwo hin abtransportiert worden war.
Ich entdeckte auf dem Untersuchungsbett einen Patientenkittel und auch wenn ich hier keiner weitere Menschenseele sehen würde, fand ich es angebrachter, diesen Ort nicht weiter nackt zu erkunden. Ich nahm mir also den Kittel und näherte mich der Tür. Ich betätigte den daneben befindlichen Türöffner und stellte erst nach dieser unbewussten Tat mit leichtem Erstaunen fest, dass ich dies einer reflexartigen Gewohnheit getan habe, ohne über den Mechanismus nachgedacht zu haben. Man konnte dies wohl als kleinen Erfolg werten.
Der Korridor, der sich hinter der Tür offenbarte, war noch minder beleuchtet als der Untersuchungsraum und ich verbrachte ein paar Sekunden damit, meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Langsam und vorsichtig tapste ich über den Gang, immer noch körperlich geschwächt und durch die Dunkelheit in äußerste Achtsamkeit versetzt. In regelmäßigen Abständen zweigten sich weitere Gänge ab und Türen unterbrachen die kalten Metallwände. Doch ich nahm keine dieser Möglichkeiten wahr, sondern folgte dem Gang, an dessen Ende mich ein helles Licht in seinen Bann zog.
Eine Mischung aus Entsetzen, Neugierde und Grausen überkam mich in der sich an den Korridor anschließenden, monströsen Halle, die von einem grellen Flutlicht erleuchtet wurde, das alles in surreale Farben tauchte. Ich fand mich auf einem Gitterbalkon aus Eisen wieder, in einem monströsen Atrium der Perversion, an der zu allen Seite Kryo-Kapseln hingen. Menschliche Eisblöcke in Metallboxen, hier zu Hauf gestapelt, gereiht, abgeladen und liegen gelassen. Ich ersparte es mir die Zahl der Kapseln zu bestimmen. Die Halle schien in jede Richtung unglaubliche Weite zu besitzen, sie reichte in erschreckende Tiefen und schwindelerregende Höhen. Ich war sicher, dass hier nicht weniger als etliche zehntausend, vielleicht sogar mehr als hunderttausend Menschen untergebracht waren, alle in unechte Todesstarre versetzt. Eine Zivilisation in der Tiefkühltruhe. Ich musste über diesen Gedanken schmunzeln.
Warum man das getan hatte?
Verdammt gute Frage.
Ich entdeckte in unmittelbarer Nähe eine Computerkontrolle, von der ich mir neue Erkenntnisse erhoffte. Auf dem Bildschirm konnte ich eine Auflistung der Kapseln erkennen, was mir zwar keine bessere Antwort auf das „Warum“ einbrachte, aber eine überraschende neue Frage: Erst die Auflistung machte mich darauf aufmerksam, dass fast die Hälfte der Kapseln leer waren. Ein studierender Blick in die allernächsten Kapseln bestätigte, dass tatsächlich nicht alle Kryo-Behälter gefüllt waren. Waren die Kapseln nie benutzt worden? Oder waren sie verlassen worden?… Aber warum wurden dann nicht alle Menschen aufgeweckt?
Ich versuchte meine Situation nüchtern zu betrachten und die wenigen aufkeimenden Erinnerungen mit Hilfe des Computers zu einem klareren Bild zusammensetzen. Zu meinem Bedauern war der Computer praktisch ausschließlich der Kapselüberwachung zugedacht und bot kein hilfreiches Geschichtsarchiv. Ein paar Informationen ließen sich dann doch zusammenpuzzeln.
Mit Sicherheit hatten wir uns nicht freiwillig in diese Kapseln gesperrt. Ein Krieg hatte uns dazu gezwungen. Ich konnte mich sogar noch dunkel daran erinnern, wie wir gefürchtet hatten, der Feind könnte es schaffen in unser Sonnensystem einzudringen. Er hatte es wohl geschafft - und unsere Welt zerstört. Die Aufzeichnungen sprachen von einer in ihrer Schrecklichkeit völlig neuartigen Waffe, die den Sauerstoff aus Atmosphäre in einer langsamen, aber unaufhaltsamen Kettenreaktion vernichtete. Ich konnte mich nicht einmal mehr erinnern, welch schrecklicher Feind zu einer solchen Tat im Stande gewesen war. Sie wollten uns einfach vernichten. Uns unsere Lebensgrundlage nehmen. Uns verrecken lassen. Die Details unserer Vertreibung in den Kälteschlaf waren mir nur noch undeutlich im Kopf. Ich baute aber auf mein eigenes Versprechen, dass alle Erinnerungen wiederkehren würden, und je mehr ich mich zurückversetzte, desto umfassender wurde das Bild der Vergangenheit.
Der Prozess, die Atmosphäre eines ganzen Planeten zu verändern, konnte jedenfalls nicht in wenigen Minuten von statten gegangen sein. Wie lange es auch immer genau gedauert haben mag, es war genug Zeit, um zumindest noch einen kleinen Teil unserer Zivilisation in diesen und vielleicht noch weitere Bunker zu retten, die irgendwo tief in die Erde gegraben worden waren - bevor uns allen die Luft ausging. Vielleicht hatte man ja ein solches Worst-Case-Szenario schon erwartet? Letztlich müsste sich nach etlichen Jahrzehnten wieder Sauerstoff in der Atmosphäre angereichert haben. Es war ja niemand mehr da, der ihn verbrauchen konnte. Das war unsere einzige Hoffnung auf Überleben als Spezies gewesen.
Immer klarer wurde mir jedoch auch, dass dieses Vorhaben in der Praxis gescheitert war. Ich befand mich völlig allein in diesem Bunker, ohne einen Arzt, mit einigen leeren Kapseln und lückenhaften Erinnerungen. Ein technischer Fehler musste aufgetreten sein, denn der Computer vermeldete, dass er die Stromversorgung in etlichen Kapseln aus Energiemangel auf ein sparsameres Niveau herunterfahren musste. Die Art, wie diese Tatsache auf der Anzeige präsentiert wurde, ließ keinen Zweifel daran, dass dies weder so gedacht war, noch gesund für die darin liegenden Menschen sein konnte. Ich hielt tot für tot - dass eine funktionierende Stromversorgung einen entscheidenden Unterschied machen sollte, befremdete mich. Mit Sicherheit wusste ich nur, dass ich früher kein Mediziner gewesen war, denn eine Person aus diesem Zustand zu erwecken wäre mir gewiss auch mit vollständigen Erinnerungen nicht möglich gewesen. Genauso wenig war ich ein Computerexperte: die Steuerung zu überschreiben hätte ich ebenso wenig fertig gebracht, noch schien es sinnvoll. Der Computer versuchte wenigstens einige Kapseln solange er konnte auf voller Batterieleistung zu halten. War ihm das nicht mehr möglich, hatte man es hinter sich. Wenn man Glück hatte, weil man, wie ich, aufwachte.
Hoffnungslosigkeit trieb mich dazu, die Räume und Hallen des Bunkers vollständig zu erkunden. Aber es war offensichtlich, dass er nicht dazu errichtet wurde, so viele Menschen auf eine andere Weise zu beherbergen als platzsparend im Kälteschlaf gelagert. Die Ausstattung war praktisch ausschließlich zur medizinischen Versorgung gedacht. Unsere Zivilisation musste zurück an die Oberfläche, wenn sie weiterleben wollte.
Mich bedrängte die Frage, wie weit sich unsere Welt bereits verändert hatte. Vielleicht würde es noch Jahrhunderte dauern, bis sich eine gerade so atembare Atmosphäre aufgebaut haben würde. Und den noch schlafenden Menschen würde es nicht mal wie eine Sekunde länger vorkommen. Für mich war diese eine Sekunde bereits 70 Jahre lang gewesen. Das zeigte das Datum des Computers. 2487. Das war bereits erschütternd genug, ohne darüber nachzudenken, dass es auch 200 Jahre gewesen sein konnten, ohne dass ich einen Unterschied hätte erkennen können. Der einzige Unterschied lag an der Oberfläche.
Sollte ich mir Hoffnungen machen? Ich wusste es nicht. Die externen Messsensoren waren komplett ausgefallen, was mich in der Situation kaum noch verwunderte. Wenn ich wissen wollte, wie es unserer Welt ging, musste ich selber an die Oberfläche gelangen. Die Frage war nur, auf welche Weise? Es gab riesige und schwerfällige Torkonstrukte, die nach oben führten. Nur sollte ich mich auf ihre Funktionstüchtigkeit verlassen? Wenn sie nicht mehr schließen würden und die Atmosphäre draußen noch nicht wiederhergestellt wäre? Ich würde den letzten Sauerstoff, den wir hatten, entströmen lassen. Sicher musste es eine Alternative geben. So einfach würde ich nicht aufgeben. Nicht solange ich keine Antworten hatte.
Ich entdeckte eine besondere Apparatur, die ich erst nicht identifizieren konnte. Etliche Kontrollen waren um einen Stuhl herum geformt, auf dem ein Mensch Platz nehmen konnte, was ja wohl einen Nutzen haben musste. Fieberhaft versuchte ich dieses Gerät in meinen Erinnerungen einzuordnen. Mir wurde bewusst, dass ich einen Computer nicht bedienen konnte, weil ich mich an Situationen erinnerte, in denen ich ihn auf eine bestimmte Weise benutzt hatte, sondern weil ich Erfahrungen mit diesen Geräten hatte, die von den Erinnerungen unabhängig waren. Nur mit dieser großen Apparatur konnte ich keine einfach wiederholbaren Erfahrungen verknüpfen. Etwas wusste ich über Sie, wenn auch sehr verschwommen. Ich konnte sie wohl nie zuvor bedient haben. Aber sie gesehen haben - oder zumindest von ihr gehört haben - musste ich, und es musste einen großen Eindruck hinterlassen haben. Eine Eingebung sagte mir, dass diese Maschine von großer Bedeutung war. Hatte es nicht eine neuartige Erfindung gegeben; eine Erfindung, die vielleicht sogar kriegsentscheidend hätte sein können? Irgendetwas mit Transportation? Eine sichere Möglichkeit an die Oberfläche zu kommen und zurück? Irgendwie zumindest.
So wenig ich über die Konsequenzen sagen konnte, zwang mich der Mangel an Alternativen dazu, es zu versuchen. Ich legte mich in die zurückgelehnte Halterung, auf die der Stuhl eingestellt war, befestigte die verdrahteten Anschlüsse an gummierten Handringen, legte Kopfbänder und Fußschnallen an den entsprechenden Körperstellen und aktivierte die Maschine.
Erkenntnisse
Mein Gehirn kam kaum nach, die Eindrücke zu verarbeiten, die einen Sekundenbruchteil später auf mich herein prasselten. Ihre Konsequenzen zu erfassen. Meine Intuition hatte Recht behalten, ich war tatsächlich augenblicklich an die Oberfläche gelangt. Ich konnte alles sehen, fühlen, riechen, es wirkte absolut authentisch. Ich wollte darüber nachdenken, wie uns ein solches System hätte helfen können, den Krieg zu gewinnen, wenn es denn früher einsetzbar gewesen wäre. Aber sofort wurde dies zur Nebensächlichkeit, als mir bewusst wurde, dass ich atmete. Diese bedeutungslose Handlung hat mein Körper völlig unbemerkt vollführt, aber es bedeutete so viel. Der Himmel war blau und klar, die Luft schien unglaublich rein. Das natürlichste der Welt war für jemanden, der 70 Jahre lang im Kälteschlaf gelegen hatte, zum Wunder geworden. Ich blickte mich um, wollte diese neue Selbstverständlichkeit einfangen, als die Auferstehung einer Zivilisation feiern… Ich erstarrte.
Mein Herz… es musste für eine Sekunde zu schlagen aufgehört haben.
»Was…?« Mein Mund überholte meinen Kopf. Entsetzen. Erstaunen.
Ich glaubte es nicht. Ich schloss die Augen, und öffnete sie wieder. Aber die Stadt stand immer noch am Horizont. Sprach ich von Selbstverständlichkeit? Ich hatte zerstörte Städte erwartet; das war, was uns allen widerfahren war. Aber die Stadt glänzte unversehrt im Sonnenlicht, als wäre uns nie etwas widerfahren. Die Hochhäuser standen alle. Die Straßen! Ich konnte Bewegung auf ihnen erkennen. Wenn ich die Augen schloss und genau lauschte, konnte ich die betriebsamen Geräusche der Stadt, nein, der Metropole, hören. Sie lebte! Eine Millionen-Metropole in einer vermeintlich toten Welt.
Ich ging auf die Stadt zu. Bewusst nahm ich nicht einmal die unpassende Bekleidung wahr, mit der ich mich der Stadt näherte. Und je näher ich ihr kam, umso mehr als ich einen ihrer Vororte endlich betrat, kam es mir so vor, als wäre die Stadt nie gestorben. Nicht, wie es den Milliarden Menschen ergangen war, weil sie es nicht in Schutzbunker geschafft hatten. Keinem Gebäude, Straßenschild, Pflasterstein, keinem der vorbeigleitenden Fahrzeuge war Vertreibung oder gar Zerstörung anzusehen. Im Gegenteil, alles wirkte neu und auch sehr befremdlich. Alles erschien für mich vollkommen unbekannt, wie aus einer anderen Welt. Selbst die kalte metallische Umgebung des Bunkers löste nun unbewusst ein behagliches Gefühl des Erinnerns aus, vermittelte den Eindruck zu meinem Leben zu gehören. Die Stadt war mir fremd, unwirklich. Mein Körper empfand sie fast wie einen Eindringling in die Umwelt.
Auf allen Seiten liefen Passanten durch die Straßen, die Stadt war tatsächlich sogar äußerst belebt. Die unbekannten Menschen versetzten mich in Angst, am liebsten hätte ich wieder die Flucht ergriffen, aber noch mehr fürchtete ich aufzufallen. Es war auch diese gespenstische Sorge, die mich in ihrem Bann hielt und mich zum Weitergehen trieb. Ich versuchte unwillkürlich in die Masse zu tauchen. Ich hörte auf, die Gesichter der anderen Leute anzublicken, denn sie zeigten keinen Ausdruck des Verstehens, sie waren kühl, neutral, geschäftsmäßig, beängstigend. Ich hatte lebendige Menschen gefunden, was weit mehr war, als ich erhofft hatte, und zu schön um wahr zu sein. Doch für ein Wunder schien diesen Menschen ihre Existenz zu profan. Sie waren nicht das, was ich erwartete. Ich hoffte inständig, dass sich niemand um den Fremden unter ihnen kümmern würde, weil ich fürchtete, dass sich meine aufkeimenden Zweifel bestätigen würden, dass dies nicht das erhoffte Wunder war.
Ich musste unweigerlich hinter einer der nächsten Ecken einer Polizeistreife begegnen, deren Beobachtung ich nicht entgehen konnte.
Ich nahm die Streife wahr, wollte sie aber eigentlich lieber ausblenden. Sie kümmerten sich um den Schutz der Bevölkerung, sie würden mir nichts tun. Es waren keine Soldaten.
»Sie da«. Einer der beiden Polizisten deutete in meine Richtung. War ich gemeint? »Würden Sie bitte einen Moment stehen bleiben.« Ich war gemeint.
Mit geübten Bewegungen schlängelten sich die beiden Polizisten durch das Gedränge und schotteten mich vom Menschenfluss ab.
»Tag, Mister. Wir müssten Sie eben mal aufhalten.«, eröffnete einer der beiden, ein kultiviert dreinblickender Mann um die 50 Jahre, auch wenn manche Züge an ihm, wie seine schlanke Figur, einen jugendlicheren Eindruck vermittelten. So trug er sein dunkles Haar, das langsam zu ergrauen schien, vergleichsweile voll und ein Windstoß wehte es ihm über die Ohren. Sein Kollege machte einen abwesenderen, fast gleichgültigen Eindruck, wenn ich das richtig einschätzen konnte. Er war jünger, vielleicht 30, mit einem sehr zackigen Schnitt seiner kastanienfarbenen Haare und noch hagerer als sein Partner.
»Wo kommen Sie her?«, fragte der Ältere mit betonter Höflichkeit.
»Von außerhalb«, antwortete ich knapp, aber zumindest doch wahrheitsgemäß.
»In dem Aufzug? Wie sind Sie denn hierher gekommen?«
»Zu Fuß.«
Ich versuchte, einfach weiterzugehen und die Polizisten mit dieser Antwort zurückzulassen, aber der junge Polizist erkannte meine Absicht und blockierte mir sofort den Weg.
»Zu Fuß???«, wunderte er sich deutlich weniger rücksichtsvoll. Das lief jetzt nicht mehr so gut…
»Wohin möchten Sie denn gerne hin?«, hakte sein Vorgesetzter weiter nach.
Ähm. Das war jedenfalls eine gute Frage. »Ich weiß nicht. Lassen Sie mich.« Und das war eine beschissene Antwort, kritisierte ich mich selber.
»Vielleicht sollten wir Ihnen helfen. So wie sie hier herumlaufen.«
Ich gratulierte mir selber zu meinem Verhandlungsgeschick. Das war keine meine Stärken, das war mir bereits bewusst, bevor ich zur ersten Antwort angesetzt hatte. Da ich mich nun eh schon in die Obhut der Polizisten getrieben hatte, konnte ich auch das Beste daraus machen.
»Was zum Henker ist hier passiert?«, fragte ich erregt.
»Wie meinen Sie das?«, konterte der Ältere. Sein Kumpel schien mich schon in eine Kategorie abgestempelt zu haben, mit der er keine Diskussionen führen würde.
»Ich meine den Krieg hier, Herrgott!«
»Welchen Krieg bitte?«
»Welchen? Na den Krieg. Der, der hier alles vernichtet hat!« Ungläubige Gesichter. »In dem diese wahnsinnige Bombe gezündet wurde. Alles Leben, das nicht evakuiert wurde, müsste tot sein! Was ist hier verdammt nochmal los? Ich habe die Bombe erlebt. Sie dürften nicht hier sein.«
Ich gab’s auf. Die beiden Polizisten tauschten einen Blick aus, den man nicht falsch interpretieren konnte: Ein Verrückter.
»Jetzt bringen wir Sie erstmal zu uns, da lässt es sich besser reden.«
Ich wurde in dem Hauptquartier der Polizei erstmal in einen Raum abgeladen, der nicht mehr als zwei Stühle, einen Tisch, und getönte Scheiben bot, die nur von außen lichtdurchlässig waren. Dort ließen die beiden Polizisten mich zwar in angemessener Kleidung umgezogen mit einem Glas Wasser sitzen, mehr boten Sie mir für den Moment aber nicht. Ich konnte noch hören, wie sie gleich hinter der Tür zu reden begannen. Dann entfernten sie sich aber und ihre Stimmen verhallten. Ich nutzte die Wartezeit, um mir Gedanken darüber zu machen, wie ich weiterhin auf die Fragen der Polizei reagieren sollte. Ich entschied, lieber vorsichtig und zurückhaltend zu antworten. Zuletzt war ich da ja nicht sehr glücklich vorgegangen. Mir war es vollkommen unerklärlich, wieso die Kriegsereignisse hier unbekannt sein konnten. 70 Jahre waren zugegebenermaßen sehr lange - genug Zeit, um einen Krieg Geschichte werden zu lassen. Aber nur unter der Annahme, das Leben wäre normal weitergegangen und das konnte unmöglich der Fall sein.
»Jetzt haben wir mehr Zeit für Sie«, begrüßte mich der ältere Polizist erneut, als er den Verhörraum betrat und sich mir gegenüber hinsetzte. Er hatte ein handliches Gerät mitgebracht, dass er vorsichtig auf den Tisch legte und zu mir drehte. Es war mit einer kleinen Öffnung versehen, gerade einmal 2 Zentimeter groß; darüber wurde das Gerät von einem flachen Anzeigedisplay dominiert. Außerdem brachte er noch eine faltbare, dickere Folie mit, die er vor sich ausbreitete. Anders als das Gerät konnte ich diese eindeutig als Schreib- und Anzeigegerät erkennen. Der Polizist wies auf das Gerät mit der Öffnung.
»Würden Sie bitte?«, bat er.
»Was?«, erwiderte ich ehrlich unwissend.
»Stellen Sie sich nicht so an. Stecken Sie bitte kurz ihren rechten Zeigefinger in das Gerät. Dann wird ihre Identität anhand von Fingerabdruck und DNA zweifelsfrei ermittelt.«
Ich tat wie mir geheißen wurde, senkte meinen Zeigefinger in das Gerät und eine Sekunde später meinte mein Gegenüber: »Gut, gut, das reicht ja schon völlig.«
»Sie könnten auch einfach nach meinem Namen fragen«, kommentierte ich in einer verzweifelten Rebellion.
»Das macht es uns allen leichter. Es geht schnell und ist absolut eindeu…« Er brach mit einem verwunderten Blick auf das Display ab, nachdem er das Gerät wieder zu sich gedreht hatte. »Sie sind nicht in der Datenbank verzeichnet…« Er blickte mich noch intensiver als sein Gerät an, konnte daraus aber nicht schlauer werden als aus dem DNA-Vergleich.
»Ich habe keine Ahnung, wie es möglich ist, dass Sie nicht in der globalen Personen-Datenbank verzeichnet sind.« Er pausierte überlegend. »Aber Sie scheint es nicht zu überraschen?«
Ich gab ihn mit einer leichten Kopfbewegung Recht. Ich bezweifelte, dass er seine Unwissenheit vortäuschte, was mich vermuten ließ, dass er genauso wenig eine Erklärung für alles hatte. Nur dass wir es aus unterschiedlichen Standpunkten sahen. Vielleicht musste ich doch in die Offensive gehen.
»Wer sind Sie jetzt?«, fragte er durchaus schockiert, aber mit einer distanzierten Neugierde.
»Ah, brauchen Sie jetzt doch meinen Namen? Sagen Sie mir erst ihren Namen. Dann lässt es sich wirklich besser reden.«
»Hm, in Ordnung«, willigte er ein, »Ich heiße Zedian Jatho. Und ihr Name?«
»Koren Suro.«
»Suro…«, wiederholte Jatho nachdenklich, während er diese Information auf seinem Display eintrug. »Wissen Sie, es ist mir noch nie untergekommen, dass die DNA-Datenbank zu einer Person keine Daten liefern konnte. Das ist das allererste Mal. Das heißt, Sie sind ein Mysterium, Suro.«
»Nun, was fangen wir damit an?«
»Das weiß ich nicht. Ganz ehrlich habe ich Sie für einen dieser Verrückten gehalten, jemand mit einer paranoiden Wahnvorstellung, den wir einfach in eine Anstalt eingewiesen hätten. Aber Sie wären der erste Paranoide, der es geschafft seine Identität nicht nur geistig zu verlieren. Bisher scheinen Sie mir auch ausgesprochen vernünftig. Also, packen wir die Karten auf den Tisch, wie haben Sie es geschafft, nicht im System geführt zu werden und warum?«
Ich ging nicht darauf ein. Ich wusste keine Antwort. Was für ein System? Konnte ich einem System entgehen, das für mich nie existiert hatte?
»Was wird hier verdammt nochmal gespielt?«, entgegnete ich.
»Sagen Sie es mir. Sie sind das Mysterium, und dafür will ich eine Erklärung.«
»Nein, für mich sind Sie das Mysterium. Eine Erklärung hätte ich auch gerne. Ich weiß nicht, von welchem System Sie sprechen.«
»Sie sehen nicht alt genug aus, um nicht auf dieser Welt geboren zu sein. Und selbst dann müssten Sie zwangsläufig im System gespeichert sein«, dachte Jatho laut nach, ohne mir damit zu helfen.
»Nicht alt genug, um auf dieser Welt geboren zu sein?« Was hatte das zu bedeuten, fragte ich mich.
»Sie haben wirklich keine Ahnung? Eigentlich müsste ich annehmen, Sie spielen mir Ihre Unwissenheit nur vor. Aber erzählen Sie mir, was Sie meinen«, ließ sich Jatho auf mich ein.
Ich zog es trotzallem vor vorsichtig zu sein. Das war alles immer noch unerklärlich, womöglich sogar gefährlich.
»Sagen Sie mir, wo wurden Sie geboren?«
»Na hier natürlich. Auf Terra Nova.«
»Terra Nova?«
»Terra Nova. New Earth. Die neue Erde. Wie immer Sie diesen Planeten nennen wollen.«
»Dies ist nicht Terra Nova. Dies ist Portunus.«
»Portunus?«. Es klang wie Verwunderung, aber gleichzeitig blitzte ein Funke in Jathos Augen.
»Sagt Ihnen das etwas?«
»Nein.«
Jatho wollte noch mehr entgegnen, als sein Display heller wurde und eine wichtige Information anzuzeigen schien, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Mit einem ausführlichen Blick, bei dem seine Pupillen in deutlicher Erregung rasant über mehrere Zeilen Text glitten, nahm er die Nachricht auf.
»Ich komme wieder«, sagte er mit ernster Bestimmtheit.
Sofort schnellte er hoch und machte sich in Richtung Tür davon. Jatho hatte noch nicht einmal den Raum verlassen, da reckte ich mich schnellstmöglich auf, um kopfüber etwas von dem Text erhaschen zu können. Doch Jatho bemerkte diese Sicherheitsverletzung, drehte sich gerade noch in der Tür um und nahm das Display mit einem hastigen Griff wieder an sich. Dann verließ er den Raum endgültig, mit dem dünnen Gerät unter dem Arm. Eher unbewusst als wissentlich gerieten mir einige Worte in die Augenwinkel, bevor es zu spät war. In diesem Sekundenbruchteil konnte ich etwas wie „Überstellung“ und „Zuständigkeit“ erkennen.
Abenddämmerung
Jatho hatte Recht. Er kam wieder. Allerdings erst nach mehreren Stunden, in denen ich immer gieriger und verzweifelter auf neue Informationen hoffte. Das stille Warten wirkte keinesfalls beruhigender oder erhellender als das Verhör. Ich zweifelte schon an vielem, sogar an meinem eigenen Verstand, aber doch blieb ich der Meinung, dass es eine rationale Erklärung geben musste. In jedem Fall stammten diese Menschen offenbar nicht von derselben Welt wie ich, oder zumindest hielten sie es nicht für die Selbe.
Jatho öffnete die Tür und richtete seine Augen entschlossen starrend auf mich. Mit einem knappen Handwinken forderte er mich auf, aufstehen.
»Wo geht es hin?«, fragte ich, als ich mich ihm anschloss.
»Ich liefere Sie aus. Eine andere Behörde ist für Ihren Fall zuständig.«
Ohne weitere Erklärungen legte Jatho mir Handschellen an, was mich erstaunte, da er sich bisher verhalten hatte, als ob er mich wenigstens als ungefährlich betrachtete. Aber ich wehrte mich nicht. Noch hoffte ich auf eine richtige Erklärung. Ich konnte es ihm nicht mal verübeln, ich wäre sogar noch misstrauischer vorgegangen. Ich könnte weiß Gott was sein. Er könnte weiß Gott was sein. Nur saß ich dafür auf der falschen Seite der verstärkten Transparentscheibe des Schwebers, mit dem mich Jatho durch die Abenddämmerung transportierte.
»Was wird nun passieren?«, fragte ich in die bedrückende Stille, die sich während des Fluges über die Kabine gelegt hatte. Das Schweigen wurde aber nicht unterbrochen - Jatho ließ meine Frage unbeantwortet.
Völlig unerwartet schlug das Gefährt eine spitze Wende ein, die absolut grundlos erschien. Die Luft um uns herum, soweit ich das aus dem kleinen Fenster in meinem Kabinenabteil erkennen konnte, war frei von Gegenverkehr, es wäre genug Platz für eine langsamere Kurve gewesen, wenn sie in der Flugroute vorgesehen gewesen wäre.
»Was ist los?«
Mit einiger Verzögerung antwortete Jatho: »Das werden Sie gleich sehen«
Der Flug nahm jetzt ein rasches Ende als der Schweber in einem schmutzigen Industrieviertel absetzte. Die Dämmerung war halb in die Nacht versunken. Die wenigen rotgefärbten Lichtstrahlen, die die Oberfläche noch erreichten, wurden in der rauchigen und von Industrieanlagen verdreckten Luft in ein tiefes, deprimierendes Braun getaucht, das nur spärliche Helligkeit einbrachte. Die einzige Lichtquelle war die Beleuchtung innerhalb des Schwebers, die sich in die frühe Nacht ausbreitete. Jatho stieg aus dem Pilotensitz aus und riss meine Tür auf. Gefesselt wie ich war, warf er mich aus dem Sitz auf den Boden. Ich rollte durch den Staub und kam mit dem Kopf in den Dreck blickend zu liegen. Bevor ich mich aufraffen konnte, trat Jatho neben mich und stieß mich mit einem gewaltigen Fußtritt in meine Bauchseite zurück in Richtung Schweber. Ich spürte nur einen dumpfen Schmerz, aber mein Verstand schien fast aus meinem Kopf gerissen zu werden. Ich rappelte mich auf den Rücken und stützte mich mit den Handballen in die Höhe um mich gegen die Außenhaut des Schwebers zu lehnen.
»Was zum Teufel tun Sie?«, schrie ich aus meiner zusammengesunkenen Lage hervor, als Jatho abzulassen schien.
»Das, was Sie verdienen«, meinte er, als er seine Waffe aus dem Holster zog und gezielt auf meinen Kopf richtete.
»VERDAMMT! Sind Sie verrückt!?«, brüllte ich panisch heraus, »Was habe ich Ihnen getan? Ich kenne Sie doch nicht mal!«
»Was Sie getan haben? Was Ihr getan habt! Ich kenne Sie. Ich kenne Ihre ganze verschissene Brut«, entgegnete er voller Zorn.
»Sie…«, noch wollte ich mich nicht geschlagen geben, doch Jatho stellte die Fragen und wollte auch nicht davon ablassen.
»Wo habt ihr euch verkrochen? Wo habt ihr die ganzen Jahrzehnte verbracht?«
Ich schwieg.
Jatho schlug mir seine Waffe über den Kopf, nicht hart genug um mir den Schädel zu zertrümmern, aber ich spürte auch fast keinen Schmerz, vor aufbäumender Wut und entschlossenem Widerstand.
» Gestehen Sie wenigstens Ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Sie Schweinehund!«
»Ich habe keine Ahnung…«, begann ich.
»Wollen Sie nicht?«, unterbrach mich Jatho fragend und stemmte mich mit seiner Waffen gegen die Seite des Schwebers, »Oder wissen Sie es wirklich nicht?« Jatho legte eine Pause ein, in der er schwer zu überlegen schien. »Falls Sie wirklich keine Ahnung haben, sollen Sie wissen, wofür Sie das verdienen. Ich werde Ihnen nicht die Genugtuung lassen, in dem Glauben sterben zu können, unschuldig zu sein. Sie haben Milliarden Menschen auf dem Gewissen!« Jatho holte tief Luft für seine Henkersbelehrung. »Der Krieg, von dem Sie immer sprachen…Warum habt ihr den wohl geführt? Ihr habt ihn angefangen! Ihr habt die Kolonialhoheit der Erde blutig bekämpft. Ihr elenden Portunusier! Die Erde, die Heimatwelt der Menschheit! Eure verdammte eigene Heimat! Und ihr habt ununterbrochen eure dreckigen Bomben auf sie geworfen! Was hier passiert ist, war harmlos dagegen, aber es war die letzte Option. Meine Großväter hätten den Krieg nicht mehr anders gewinnen können, dafür habt ihr gesorgt. Hätten wir widerstandslos sterben sollen? Das liegt nicht in der Natur des Menschen.« Jatho steigerte sich immer weiter in seinen Zorn, dass es ihm selber Kraft kostete.
»Wissen Sie, die Erde ist heute verwüstet. Die Menschen haben es noch fast 20 Jahre auf ihr ausgehalten, bevor sie sich eingestehen mussten, dass ihre Heimat tot ist. Ich hätte diese Zeit fast vergessen. Man ist geneigt eine solch schreckliche Kindheit zu verdrängen. Ich habe bis zu meinem 6. Lebensjahr kein richtiges Tageslicht gesehen. Der Staub eurer Bomben hat die Sonne verdunkelt. Und wenn die Wolken einmal aufgeklart waren, durfte ich trotzdem nicht raus, denn die UV-Strahlung hätte mich bei lebendigem Leibe gegrillt. Sowas mussten Sie nicht ertragen. Ich kenne die Schönheit der Erde nur noch aus den Erzählungen meines Vaters. Wissen Sie, er gehörte zu dem letzten Jahrgang, dem überhaupt die Chance gewährt wurde, die Erde zu verlassen. Der Rest der Menschheit ist zum Sterben zurückgeblieben. Wir mussten wegen ihnen komplett neu anfangen, die jüngsten Kinder voran – die, die noch nicht von Geburt an verkrüppelt waren. Viele Eltern konnten ihre Kinder nicht mehr begleiten. Ich hatte das Glück, dass er mich begleiten konnte. Er hätte hier ein neues Leben anfangen können. Aber er war bereits zu stark verstrahlt. Er ist langsam und schmerzhaft dahin vegetiert. Es hat zwei lange Jahre gedauert, bis er endlich gestorben ist. Sie verdammtes Schwein können sich gar nicht vorstellen, wie schwer es für ein Kind ist, zuzusehen, wie der eigene Vater immer weiter von einer bösartigen Krankheit aufgefressen wird. Solange, bis er sich mit der wenigen Nahrung, die er intravenös bekam, noch voll geschissen hat, weil sein Körper jegliche Funktion eingestellt hat. Für uns ist das hier das Paradies im Vergleich zur Erde. Er war bereits im Paradies und ist gestorben.«
»Wenn Sie das wollen, warum haben Sie mich nicht gleich umgebracht?«
»Keiner rechnet mit überlebenden Portunusiern. Für uns seid ihr alle tot. Wir waren Kinder, die endlich ein menschenwürdiges Leben beginnen durften. Wir haben nicht groß gefragt, was aus unserem Feind geworden ist. Der Krieg war zu Ende. Aber glauben Sie nicht, dass deshalb alles vergessen ist.«
Unerwartet heulten und blitzten Lichtsignale eines anderen Schwebers auf, der sich in der aufgezogenen Dunkelheit unbemerkt genähert hatte. Er landete direkt in unserer Nähe und drei in Anzüge gekleidete, in ihrem ernsten Erscheinungsbild einschüchternde Männer sprangen heraus.
»Stop!«, brüllte einer der Herrschaften sofort. Doch Jatho ließ nicht davon ab, mich mit seiner Waffe zu bedrohen. Er wendete nur seinen Kopf zu den eingetroffenen Männern.
»Wie haben Sie mich gefunden?«, wollte Jatho wissen.
»Ihr Transport ist vom Kurs abgewichen. Wir haben Sie überwacht. Wir machen keine halben Sachen. Übergeben Sie uns den Mann und wir vergessen das hier.«
»Das kann ich nicht. Wissen Sie, wofür dieser Mann verantwortlich ist? Wissen Sie überhaupt, was er ist?«, wandte sich Jatho fragend an die Agenten.
»Wir wissen sehr genau Bescheid. Ja, wir kennen die Verbrechen der Portunusier. Darum müssen Sie ihn uns übergeben. Unsere Behörde ist für Leute wie ihn zuständig.
»Warum habt ihr euch auch ausgerechnet unsere Welt herausgesucht! Ihr hättet eine andere Welt kolonisieren können. Ihr habt es so heraufbeschworen!«, maß ich mir an in die Runde meiner Henker zu brüllen.
»Wir dachten, dass wir euch alle erledigt hätten«, kommentierte einer der Agenten.
»Das hätten wir tun sollen! Das können wir immer noch tun! Überlasst ihn mir!«, bellte Jatho wütend.
»Das ist nicht Ihre Angelegenheit. Sie sollten nicht einmal wissen, wer die Portunusier sind. Ihr Freund da ist nicht der Erste, der aus seinem Loch gekrochen ist. Wir wissen nicht, wie viele es noch von ihnen gibt. Unsere Hauptaufgabe ist es, den Frieden zu bewahren«, rechtfertigte ein Agent ihren Auftrag.
»Frieden! Vergessen Sie doch den Krieg, unsere Völker könnten in Frieden zusammenleben«, schlug ich den Agenten vor.
»Es geht nicht um das Vergessen. Wir bringen euch nicht wegen der Verbrechen eures Volkes um. Es geht nicht mehr um irgendeine unsinnige Allgemeinschuld. Das hat sich erledigt, wir haben euch dafür bereits gestraft. Jetzt geht es nur noch um die Sicherheit unseres Volkes. Und dafür stellt jeder Portunusier, schuldig oder nicht, eine enorme Gefahr dar. Ihr werdet keinen Frieden bringen.«
»Was habt ihr denn mit ihm vor? Doch nichts anderes als ich?«
»Ja, wir werden ihn liquidieren, Detective Jatho.«
»Dann lassen sie mich die Schmutzarbeit machen! Wer von ihnen hat seinen Vater beim Sterben zusehen dürfen, wegen den Bomben dieser Drecksbande!? Ihr seid die zweite Generation. Ich habe meine persönliche Rechnung mit den Portunusiern. Ich weiß, wofür er den Tod verdient hat.«
»Ich verstehe Ihren Schmerz… In Ordnung, Sie können ihre Genugtuung bekommen. Nur erwarten Sie keine Hilfe von uns. Sie werden sich um die Leiche kümmern und sich notfalls zur Rechenschaft ziehen müssen. Und lassen Sie sich gesagt sein, es wird Ihnen nicht helfen, die Wahrheit erzählen zu wollen. Wir würden uns dann auch um Sie kümmern.«
»Deal.«
Mit einem vergnügten Grinsen bückte sich Jatho zu mir hinunter und rieb mir freudestrahlend seine Abschiedsworte unter die Nase.
»Jetzt gibt es keinen weiteren Aufschub für dich.«
Ich spukte ihm mehr erzürnt als verängstigt in seine sich geradezu anbietende Visage.
»Grüß mir den Teufel!«, verabschiedete er sich.
Er drückte ab und ich konnte für einen kurzen Moment spüren wie der Energiestoß seiner Waffe ein Loch in meinen Kopf sengte.
Manche Leute behaupten ja, gegen eine Amnesie hilft ein Schlag auf den Kopf. Dazu kann ich nur sagen, dass nichts so erhellend sein kann, wie das Gefühl dem Sensenmann in sein Angesicht zu blicken. Ich konnte mich an alles erinnern. An Alles.
Die Agenten wendeten sich von dem qualmenden Fleischhaufen ab.
»Ich hoffe, es hat Sie glücklich gemacht. Sie werden niemanden davon erzählen, verstanden? Die heranwachsende Generation hat den Krieg schon so gut wie vergessen und sie braucht nicht daran erinnert zu werden.«
Mit diesen Worten verschwanden die Agenten wieder in ihren Schweber und entfernten sich in die Nacht.
Jatho blickte die Leiche ein weiteres Mal an und bewunderte seine Tat. »Das Blut unserer und eurer eigenen Väter ist an euch. Ihr habt sie zu Millionen sterben lassen. Ihr habt nichts anderes verdient.«
Ein bis aufs äußerste beängstigendes Gefühl durchfuhr Jatho, als die Überreste seines Opfers auf einmal zerflossen. Sie verloren ihre zusammenhängende Konsistenz, entbehrten urplötzlich ihrer Menschlichkeit noch im Tode, spalteten sich in mehrere zähflüssige Brocken, die einfach zu Boden sackten.
»Was ist das?«
»Überrascht?«, flüsterte ich Jatho in den Nacken. Zu Tode erschrocken wollte er sich reflexartig zur Seite wenden, doch ich verhinderte das sofort. Mit einem gekonnten Tritt zwischen seine Schenkel zertrümmerte ich ihm seine rechte Kniescheibe in einem einzigen kräftigen Ruck. Schmerzerfüllt sackte er frontal zu Boden. Noch beim Aufschlag hatte er seine Waffe ergriffen, doch bevor er zu einer überstürzten Handlung fähig gewesen wäre, trat ich schwergewichtig auf seinen Handknochen und riss ihm die Pistole aus seinen Klauen. Wo ich schon dabei war und seinen Arm so gut eingespannt hatte, entschied ich mich noch dazu, seine Schulter mit einem kräftigen Zug auszukugeln.
Die Fronten hatten sich gewechselt, nun bedrohte ich Jatho mit seiner eigenen Waffe, während dieser sich auf dem Boden wand und nur undeutlich durch vor Schmerz zusammengepresste Zähne sprach.
»Heiliger Herrgott!«
»Ja. Fürchten Sie mich!«
»Wie ist das möglich?«
»Ich bin ein Geist. Natürlich nicht die Art Geist. Ich bin nur nicht wirklich hier, dies ist die täuschend echte Projektion einer ausgeklügelten Maschine. Ich bin immer noch sicher im Bunker; ich habe ihn nie verlassen. Sie haben nur eine billige, ferngesteuerte Imitation getötet. Darum hättet ihr den Krieg verlieren müssen. Ihr Primitivlinge hättet technologisch keine Chance. Wenige Monate später wäre die Maschine an der Front einsetzbar gewesen und es für euch endgültig aus gewesen. Aber wenn ich Sie töte, garantiere ich Ihnen, wird es endgültig sein.« Ich wollte schon den Abzug durchdrücken, als mich der Drang durchfuhr sein Leid noch etwas auszudehnen. »Ich möchte auch meine Genugtuung wie Sie. Darum sollen Sie wissen, dass wahrscheinlich schon einige Tausend von uns, die vor mir erwacht sind, versteckt unter euch Terranern weilen. Ich denke, sie haben sich nicht getraut den Rest von uns aufzuwecken und in eine solche Welt zu schicken. Aber weitere Hunderttausende befinden sich noch im Kälteschlaf und ich werde sie aufwecken und gegen allen Widerstand führen! Ich muss Ihnen fast danken. Sie haben dafür gesorgt, dass ich mich wieder an alles erinnern kann. An meine Ausbildung im Militär, den Flottendienst, den Krieg. Danke. Nachher hätte ich mich noch mit ihrem System arrangiert - wenn Sie nicht gewesen wären.«
»Sie sind doch verrückt! Der Krieg ist vorbei. Sie haben verloren.«
»Der Krieg ist noch lange nicht vorbei! Verstanden!? Wir werden für unsere Heimat weiterkämpfen! Dies ist unser Planet. Kein Terraner hat hier etwas verloren. Wir werden einen Widerstand organisieren und nicht nachgeben, bis der letzte von euch tot oder von hier verschwunden ist! Dafür werde ich sorgen.«
»Sie sind ein mörderischer Bastard! Was glauben Sie, warum wir so reagieren mussten?«
Gelassen konterte ich einfach nur: »Und was sind Sie?«
»Was auch immer ich sein mag. Glauben Sie, das hier macht Sie einen Deut besser?«
»Nein. Das braucht es auch nicht.«
Ich drückte ab und erledigte mich dieser widerlichen terranischen Ratte. Es gab noch viel zu tun. Wir werden nichts mit friedlichen Mitteln erreichen. Wir könnten sagen, was wir wollten, die Terraner würden uns nicht zuhören. Man verschafft sich erst richtig Gehör, wenn man seinem Gegenüber eine Waffe an den Kopf hält. Das einzige Argument, dass die Terraner verstehen werden, ist Gewalt. Und wir werden nicht schweigen.
Quelle: treknews.de
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